Auf die Frage, was Freiheit bedeutet, fanden Philosophen und Gelehrte in der Geschichte der Menschheit verschiedene und teilweise sich strikt widersprechende Antworten. Einigkeit besteht jedoch weitgehend über einen Feind der Freiheit: Der Zwang.
Zwang – ein Wort, dass bei der Diskussion um den Veggie-Day in der Vergangenheit oft bemüht wurde. Kritiker*innen des fleischfreien Tages in Mensen und Kantinen sehen sich in ihrer Entscheidungsfreiheit beschränkt und dadurch zum Verzehr vegetarischer Gerichte gezwungen. Ist das verhältnismäßig? Zwang ist ein starker Begriff, der stets ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit bei den Betroffenen hinterlässt. Selbstverständlich kann mangels Alternativen ein gewisser Zustand des „Sich gezwungen Fühlens“ entstehen, doch besteht auch während der Veggie-Days die Möglichkeit, die in der Regel nicht weit entfernte Dönerbude oder die eigene WG-Küche aufzusuchen. Die inflationäre Verwendung führt den Begriff des Zwangs letztendlich ad absurdum und hinterlässt so eine Spur der Desensibilisierung zu all jenen, die tatsächlichen Zwang erlebt haben.
Ein Fleischfreier Tag in Mensen und Kantinen dient nicht der Bevormundung oder der Vorschrift, sondern dazu, Anstöße für eine gesellschaftliche Debatte zu geben, die wir dringend brauchen.
Es geht darum, vegetarische Gerichte auszuprobieren und festzustellen, dass eine fleischfreie Ernährung mehr ist, als nur das Weglassen von Frikadelle, Schnitzel und Co.
Warum wird das Thema dennoch von beiden Seiten meist unverhältnismäßig emotional geführt? Es handelt sich um einen Eingriff in eine der routiniertesten Genüsse unseres Alltages. Es wird versucht, einen ständig wachsender Trend aufzuhalten. Die Reaktionen sind so unverhältnismäßig, weil auch der Konsum so maßlos geworden ist. Mittlerweile liegt in Deutschland der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch bei etwa 1,2 Kilogramm in der Woche. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt jedoch maximal 300 bis 600 Gramm pro Woche.
Etwas mehr Maßhalten stünde den meisten Deutschen also ziemlich gut an. Doch für die Konsequenzen für sich selbst soll sich niemand anderes verantwortlich fühlen. Das ist nachvollziehbar.
Lars Klingbeil von der SPD twitterte zur öffentlichen Diskussion um einen Veggie-Day seine Verwunderung über die plötzliche Anteilnahme der Netzpolitiker von Union und FDP. Seine Verwunderung ist durchaus berechtigt, waren diese Damen und Herren auf ihrer eigentlichen Baustelle – beispielsweise den Enthüllungen von Edward Snowden – kaum zu sehen.
Wir erleben gerade die Aufdeckung der größten Überwachungsmaschinerie aller Zeiten, doch die Empörung fällt relativ gering aus. Und das, obwohl PRISM und Tempora eklatant gegen unser Verständnis von Datenschutz und gegen die EU-Grundrechte und das Völkerrecht verstoßen. Und das sind nur zwei der scheinbar unzähligen Programme zur flächendeckenden internationalen Überwachung. Es geht nicht um PRISM, nicht um Tempora, nicht um Xkeyscore. Der Skandal ist die Überwachung unschuldiger Bürger*innen in einem nicht überschaubaren Ausmaß. Die im Grundgesetz verankerte Unschuldsvermutung gilt nicht länger, womit dem Rechtsstaat ein großes Stück seines Fundaments entzogen wird. Als das Bundesverfassungsgericht 2010 die Vorratsdatenspeicherung kippte, kritisierte es, dass durch die Speicherung und Überwachung ohne Anlaß ein diffuses Gefühl des Beobachtetseins entstehe. Dieses Gefühl könne Bürger*innen darin hindern, ihre Freiheiten wahrzunehmen. Drei Jahre danach stellt sich die Frage, wie diffus dieses Gefühl noch sein kann. Scheinbar ist das Bewusstsein jedoch in der Mitte der Gesellschaft bislang nicht angekommen, nehmen doch nur recht wenige Nutzer Sicherheitsmaßnahmen vor oder protestieren gar gegen die stückweise Abschaffung unseres Rechtsstaates. Selbst dann nicht, als die Vorratsdatenspeicherung unter Schwarz/Rot schließlich erneut eingeführt wurde.
Das Bundesverfassungsgericht brachte 2010 noch einen weiteren Begriff in die Diskussion: Die Überwachungs-Gesamtrechnung. Sie soll berücksichtigen, dass nicht nur die Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen beachtet werden muss, sondern dass die Gesamtheit der Überwachungstätigkeiten nicht zu einer totalen Überwachung führen darf. Edward Snowden ließ diese Gesamtrechnung regelrecht explodieren.
Die Vorstellung vom Privaten scheint sich in unserer Gesellschaft signifikant zu verschieben. Während das Aufzeichnen der eigenen Telefonate, ebenso wie die Daten wann, mit wem und wo sie getätigt wurden, als Kollateralschaden auf dem Weg in eine wirklich sichere Zukunft, wahrgenommen werden, gilt ein fleischfreier Tag in öffentlichen Kantinen als totalitär. Dabei gibt es aktuell wenig, was so totalitär ist, wie unser Umgang mit der Umwelt. Sie muss sich unserem Lebensstil bedingungslos unterordnen.
Alphonse Karr sagte einst, dass die Freiheit eines jeden als logische Grenze die Freiheit des anderen hat. Diese Einschätzung wird von weiten Teilen unserer Gesellschaft geteilt. Doch wird sie auch beherzigt?
Über 60% der industriestaatlichen Getreideproduktion und 35% der Weltgetreideproduktion werden für die Tierfütterung eingesetzt. In einer Welt, in der laut UN rund 842 Millionen Menschen, also etwa 12 Prozent der Weltbevölkerung hungern, stellt sich durchaus die Frage, wie sinnvoll es ist, Getreide in diesem Ausmaß für Viehfutter zu verwenden. Immerhin bleibt nur ein kleiner Teil der Energie von etwa 5-18% am Ende für die menschliche Ernährung erhalten. Hinzu kommen noch die dadurch entstehenden Monokulturen.
Beim Sojaanbau sieht die Bilanz noch viel schlechter aus. Immerhin landen 98% der Sojaproduktion in Futtertrögen. Im Detail bedeutet das, dass derzeit eine Landfläche von rund 2,5 Millionen Hektar in Südamerika benötigt wird, um die deutsche Nachfrage zu bedienen. Diese Landfläche wird zunehmend in den für das Weltklima dringend notwendigen Regenwäldern gesucht, die schließlich multiresistenten Monokulturen weichen müssen.
Landfläche ist streng limitiertes Gut. Dennoch dienen bereits heute 30% der eisfreien Landflächen der Erde ausschließlich der Fleischproduktion und anderen tierischen Nahrungsmitteln. Hinzu kommt die Entsorgung von Gülle, was nicht wie bei menschlichen Exkrementen durch Klärwerke geschieht, sondern meist direkt ins Grundwasser gelangt und damit Böden und Wasser durch den Einsatz von immer mehr Antibiotika kontaminiert.
Viele Sachverständige sind sich darüber einig, dass es in den Kriegen der Zukunft nicht nur um Ressourcen wie Erdöl gehen wird, sondern viel mehr um Wasser. Die Süßwasserknappheit sorgt bereits heute für große Probleme in vielen Teilen der Welt, wie beispielsweise der Sahel-Zone, Israel oder Jordanien. Die Wasser-Bilanz der Fleischproduktion fällt ebenfalls denkbar schlecht aus. Dass die Erzeugung von einem Kilogramm Rindfleisch etwa 15.500 Liter Wasser benötigt, ist mittlerweile weitestgehend verbreitet. Aber auch anderes Tierfleisch steht nicht viel besser da. Für ein Kilogramm Schweinefleisch wird immerhin noch rund 6.000 Liter Wasser benötigt. Bei Geflügel sind es rund 4.300 Liter. Ein Kilogramm Kartoffeln benötigt hingegen 106 Liter Wasser.
In der Gesamtrechnung bedeutet das: Fleischkonsum ist der Klimakiller Nummer eins. Allein die Intensivtierhaltung ist für 18% der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Unser Fleischkonsum droht den Planeten zu verzehren. Unter ihm leiden ganze Bevölkerungsstriche, nur eben weit entfernt vom eigenen Tellerrand. Hier stellt sich durchaus die Frage, ob unsere Freiheit zum maßlosen und ständigen Fleischkonsum, die Freiheit anderer beschränkt. Karl Jaspers fand dazu einst die richtigen Worte, als er sagte: „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung der Freiheit“.
Eine wichtige Gruppe fand in dieser Gegenüberstellung bislang keinen Platz: Die Tiere. Sind wir wirklich berechtigt, das Töten und Quälen von Tieren als unsere Privatangelegenheit abzutun und dafür keine Rechenschaft ablegen zu müssen?
„Satte Menschen sind nicht notwendigerweise frei, hungernde Völker sind es in jedem Falle nicht“, stellte Willy Brandt fest. Unser Lebensstil hat einen riesigen Einfluss auf die Lebensumstände weltweit. Und dieser Einfluss ist zunehmend zerstörerisch. Wir sorgen für Hunger, Leid und Katastrophen und das nur aus falsch verstandener Freiheit und der Angst vor Veränderung. Aber auch, weil wir verlernt haben Maß zu halten. Gleichzeitig befinden wir uns in einer Lethargie, die es erlaubt, uns viele über Jahrzehnte hart erkämpfte Rechte mit einem Handstreich nehmen zu lassen. Wir halten uns mit Scheindebatten über die Freiheit auf Tellern und Straßen auf und sehen dabei nicht, wie sich der Begriff selbst in einem Meer der Beliebigkeit verliert. Es ist Zeit, die Empörung konstruktuv zu entladen und sich von tatsächlichen Zwängen und Routinen zu befreien, denn wir wissen so viel und aus Wissen erwächst immer auch Verantwortung. Nutzen wir die Freiheit, die uns bleibt, gewissenhaft und fühlen wir einmal mehr über uns selbst hinaus.
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Diesen Beitrag veröffentlichte ich in leicht veränderter Form 2013 an anderer Stelle.
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