Ein Leben ohne Lesen und Schreiben ist möglich, aber es ist anstrengend und wird mit Scham und Stigmatisierung behaftet. Auch deswegen fällt es Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können,schwer, Unterstützung zu suchen und auch im Erwachsenenalter noch Lesen und Schreiben zu lernen.
Zwei Orte, an denen das möglich ist, habe ich in den letzten Wochen besucht: In Husum und in Oldenburg. Dort befinden sich sogenannte Regionalstellen der Volkshochschulen. Sie versuchen ein breites Angebot in ganz Schleswig-Holstein zu ermöglichen. Was einst als bundesweites Vorzeigemodell gestartet ist, braucht dringend neuen Schub, auch aus der Landespolitik.
Im Jahr 2011 wurde eine wegweisende Studie veröffentlich: Die Leo-Level-One Studie stellte fest, dass etwa 14% der deutschen Erwachsenen so wenig lesen und schreiben können, dass sie die Textebene nicht erreichen. Heute wurde erstmals eine Aktualisierung der Studie mit Zahlen aus dem Jahr 2018 veröffentlicht. Nach aktuellen Zahlen haben 52,6% der Betroffenen Deutsch als Muttersprache gelernt. Insgesamt können 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland nicht richtig Deutsch lesen und schreiben, in 2011 lag diese Zahl noch bei 7,5 Millionen. Fortschritte sind also möglich. Es ist zu hoffen, dass die Studie Anlass eine breite Diskussion um politische Maßnahmen bieten und das ist gut, denn der Handlungsbedarf ist offensichtlich.
Seit den 1970er Jahren bieten die Volkshochschulen in Schleswig-Holstein Kurse der Grundbildung an. Damals war der Fokus auf das Thema deutlich stärker als heute, berichteten mir Expert*innen, die seit Jahrzehnten in dem Bereich arbeiten. Heute bieten aber dennoch beispielsweise allein in Dithmarschen drei Standorte der Volkshochschule regelmäßige Kurse zur Alphabetisierung an. Zuwachs gab es in der Vergangenheit häufig nicht, denn das Geld fehlte.
Ein Problem bei der Grundbildung ist, dass Analphabet*innen häufig gar nicht erkannt werden, denn es ist für viele möglich, das eigene Leben so zu strukturieren, dass eine Schwäche im Lesen und Schreiben kaum auffällt. Diese Strukturen sind häufig allerdings durchaus fragil, wenn sich schließlich Brüche im Leben auftun, manifestiert sich der Analphabetismus und die Möglichkeit, sich Hilfe zu suchen, wird noch schwieriger. Grund dafür ist auch die weiterhin starke Stigmatisierung der Gesellschaft, bei diesem Thema. Die Suche nach einem geeigneten Job wird durch fehlende Lese- und Schreibkompetenzen häufig deutlich erschwert. Angebote zu Grundbildungskursen können nicht immer zielgerichtet an Betroffene gerichtet werden. Oft werden Betroffene aus dem eigenen Umfeld auf Angebote hingewiesen.

Zur politischen Realität gehört auch, dass die Bundesregierung im Bereich Grundbildung in den letzten Jahren durchaus tätig war. Forschungen wurden finanziert, Lehrbücher und -materialien wurden erstellt und Entwicklungsprojekte realisiert. Lange Zeit bestand etwa das Problem, dass es keine erwachsenengerechten Lehrbücher gab, heute sind sie Standard. Die Kurse selbst kann der Bund allerdings nicht finanzieren. Hier sind das Land und die Kommunen in der Verantwortung,gemeinsam mit den Volkshochschulen voranzukommen.

Eine Diskussion um Grundbildung ist immer auch eine Diskussion um Bildungsgerechtigkeit. Und Bildungsgerechtigkeit darf kein Thema allein für die Schulzeit sein, sondern muss auch die Erwachsenenbildung immer mitdenken.
Vor 30 Jahren wurden die ersten Regionalstellen gegen Analphabetismus eingerichtet, seit 20 Jahren sind in Schleswig-Holstein keine zusätzlichen dazu gekommen, obwohl man sich ambitionierte Ziele gesteckt hat. Die Volkshochschule selbst hat ein schlüssiges Konzept, für so genannte Grundbildungszentren, in dem deutlich mehr getan wird, als das Lernen von Lesen und Schreiben. Ich bin davon überzeugt, dass durch solche Zentren ein wichtiger Schritt für mehr Bildungsgerechtigkeit geleistet werden kann und auch das Land hier in der Verantwortung ist. Dafür möchte ich mich in den kommenden Jahren einsetzen.
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